„Ich dachte, er sei bei uns unschlagbar“

Nur noch wenige Stunden, dann fällt in Neuss zwei Tage vor Silvester der Vorhang für die Saison 2015. Das Finale um das Jockey-Championat steht unmittelbar bevor. Nach dem letzten Rennen erfolgt die Championatsfeier. Hein Bollow, die lebende Turflegende, wird  die Laudatio auf Vinzenz Schiergen, der es erneut zum Champion der Amateurrennreiter gebracht hat, halten. Zeitig trifft Hein Bollow aus Köln ein, nimmt im Restaurant im zweiten Stockwerk der Tribüne auf der Neusser Rennbahn Platz. Der Platzhalter ist mit  „Asterblüte-Stall“ beschriftet, jenes Weidenpescher Quartier von Peter Schiergen, das Hein Bollow nahezu täglich besucht. Schließlich kam aus dem Asterblüte-Stall mit dem Schlenderhaner Allasch auch der erste Derby-Sieger, den er geritten hat. Das war 1953.  Für unsere Serie „Meine Nr.1“ muss man den Mann, dessen Name fast ein Jahrhundert lang stellvertretend für eine gesamte Sportart steht, natürlich auf der Agenda haben.

Feuerwerk der großen Namen
Für einen Mann, der vor wenigen Wochen sein 95. Lebensjahr vollendet hat, ist er außergewöhnlich fit. Geistig wie auch noch mobil. Einziges Problem, das Gehör. „Ich höre viel, aber ich verstehe davon wenig“, so hat er selbst einmal über sich formuliert. Aber da man davon in Kenntnis ist, gibt es ja Papier und Bleistift. Doch dann stellt sich heraus, dass dies gar nicht so leicht ist, seinem angeschlagenen Tempo zu folgen. Wie Namen von Pferden, angereichert mit kurzen oder längeren Geschichten nur so aus ihm heraussprudeln, als sei alles erst gestern oder letzte Woche gewesen, ist einfach nur als genial zu bezeichnen. Der Mann ist einfach nicht zu bremsen. Er besitzt eine unglaubliche Erinnerungsgabe. Zu jedem Pferd hat er eine Analyse parat, Lob für die Sieger, Trost für die Verlierer. Und auch an die, die im Rennen Pech hatten, kann er sich noch erinnern.

Die Antwort lässt warten
Im Restaurant hinter uns haben sich einige Rennsportfans gescharrt, sie alle wollen hören, was dieser „Jahrhundertmann“ des Rennsports zu sagen hat. Mittlerweile stehen auf meinem Notizblock zig Namen, die nach Hein Bollows Ansicht als Jockey und Trainer Außergewöhnliches geleistet haben. Zur Erinnerung: Lange Zeit war Hein Bollow sogar Inhaber eines einzigartigen Rekords unter den Galopp-Aktiven auf dem ganzen Globus: Niemand sonst hatte als Jockey und als Trainer 1000 Rennen und mehr gewinnen können. Im Oktober 2009 gelang seinem Freund Peter Schiergen Gleiches. Dies erfüllte Hein Bollow mit Stolz und Freude. Immer wieder weise ich Hein Bollow auf den Zettel hin, auf dem klipp und klar steht: „Wer ist Ihre Nr. 1?“ Doch die Antwort lässt auf sich warten.

Erneut kommen Namen und Geschichten. Wie sein erster Sieg 1938 in Halle. „In Halle an der Saale, nicht in Halle in Westfalen, wie Sie vielleicht meinen.“ Er kann sich sogar noch an die Order erinnern. Seine vier Derbysiege als Reiter spielen im Konzert seiner „ganz Großen“ natürlich eine bedeutende Rolle. Er siegte, wie erwähnt, 1953 mit Allasch, zwölf Monate später genau am Tag des Fußball-WM-Finales der deutschen Mannschaft gegen Ungarn im schweizerischen Bern mit Gestüt Astas Kaliber, 1956 mit Kilometer, ebenfalls für Asta und 1962 mit der Römerhofer Herero. Dann fällt der Name Stolzenfels: „Ganz sicher, eines meiner besten Pferde, die ich je geritten habe, war Stolzenfels“, hebt Hein Bollow den Ticino-Bezwinger besonders heraus. Ende 1963 beendete Hein Bollow nach 1033 Siegen, 18 klassischen Erfolgen und 13 Championaten seine außergewöhnliche Jockey-Karriere. Dass er mit Opponent zum Abschluss seiner Jockeylaufbahn noch den ersten Preis von Europa gewinnen konnte, rundete die Sache so richtig ab. Als Trainer begann postwendend eine ganz gewiss nicht weniger erfolgreiche Karriere.

„Er war herausragend gut“
Auch aus seiner Trainerzeit nennt Hein Bollow zahlreiche Pferde des Gestüts Asta. Wie  Alte Liebe, Ankerwinde, Golfstrom, Kockpitt etc. Er schlägt einen Bogen zu den so erfolgreichen Bona-Pferden wie Oldtimer, Erlengrunds zweimalige klassische Siegerin Majorität, nennt Alte Zeit, natürlich Marduk, seinen einzigen Derbysieger als Trainer. Dann endlich schreibt er den Namen auf den Notizblock, der seine Nr. 1 ist: Nebos! „Die Entscheidung ist schwer, sehr schwer. Aber Nebos war ein besonderes Pferd, er war verdammt gut, er war herausragend“, Hein Bollow bringt es auf den Punkt. „Ich hätte nicht gedacht, dass er in Deutschland geschlagen wird“, so Hein Bollows unglaublich hohe Einschätzung über den von Margit Gräfin Batthyany gezogenen Caro-Sohn. „Man merkte schnell, da habe ich etwas ganz Besonderes in Training bekommen“, hatte Hein Bollow früh das außergewöhnliche Talent des Batthyany-Hengstes erkannt. Am 9. Juli 1978 gab Nebos auf der Kölner Heimatbahn sein Debut. Hein Bollows damaliger Stalljockey Jose Orihuel saß im Sattel. Alles war nur eine Formsache, es sprang ein leichter Sieg heraus. Über den Erfolg im Hannoverschen Pelikan-Preis steuerte Hein Bollow mit Nebos das Iffezheimer Zukunfts-Rennen an. „Gegen den  bis dahin ungeschlagenen Esclavo musste Nebos erstmals richtig zeigen, was er kann“, erinnert sich Hein Bollow. Esclavo war schließlich auch klar favorisiert, doch Nebos gewann mit der „halben Bahn“. Im Preis des Winterfavoriten gelang Esclavo die Revanche, als er gegen den immer stärker auftrumpfenden Nebos knapp vorne blieb. Im GAG wurde Esclavo ein Pfund über Nebos gestellt, doch klärte der Bollow-Schützling als Dreijähriger schnell die Fronten, als er das Krefelder Busch-Memorial überlegen gegen Esclavo gewann.

„Den muss ich reiten“
Da saß ein neuer Jockey auf Nebos. Im Bollow-Stall hatte man für die Saison 1979 einen neuen Stalljockey gesucht. Als Lutz Mäder, der am großen Kölner Stall von Arthur Paul Schlaefke engagiert war, hatte 1978 Nebos in Iffezheim gewinnen sehen. Ihm war klar, das ist ein  überragendes Rennpferd. Es kam, wie es kommen musste, Lutz Mäder stieg 1979 zum Stalljockey bei Hein Bollow auf. Im Dr. Busch-Memorial saß er somit erstmals im Sattel von Nebos, der Esclavo förmlich abcanterte. „Das Henckel-Rennen in Horst musste Nebos auslassen. Aber da haben wir dann den neuen Konkurrenten für ihn gesehen“, Hein Bollow spielt auf die Gala des Zoppenbroichers Königsstuhl im Gelsenkirchener Klassiker an. „Der hat Esclavo im Henckel-Rennen genauso abgefertigt, wie es Nebos im Busch-Memorial gemacht hat“, weiß Hein Bollow noch heute genau Bescheid. So sollte der Kölner Union eine ganz besondere Bedeutung zukommen. Das Rennen wurde für einen Funktionär, Besitzer, Trainer und Reiter zum Alptraum. Königsstuhl und Nebos passieren Kopf an Kopf die Ziellinie, der Zoppenbroicher wird nach Auswertung der Zielfotografie zum Sieger hochgezogen. Doch als das Zielfoto ausgehängt wird, ist es vor allem Turfexperte Adolf Furler, der erkennt, dass tatsächlich Nebos die Nase vorne hat. Das Zielfoto war falsch ausgewertet worden. Die Siegerehrung war bereits gelaufen, als es kurz und knapp über die Lautsprecher hieß: Die Union hat Nebos gewonnen. Die Verwirrung war riesengroß. Die Folge: Umkehrung des Richterspruchs, die Auszahlungen wurde gestoppt. Fassungslosigkeit im Zoppenbroicher Lager, aber auch Gräfin Batthyany konnte sich später über diesen Union-Sieg nicht wirklich freuen.

Das „Jahrhundert-Derby“
„Nebos hatte sich bis zum Derby weiter verbessert. Ich war mir sicher, dass wir das Derby gewinnen würden“, mit dieser klaren Ansage sattelte Hein Bollow seinen Hengst im Derby. Wie immer war Nebos der „Nureyev im Führring“, ein Tänzer, der sich auch äußerlich sichtbar bereits einige Minuten vor dem Start so richtig auf Temperatur bringen konnte. Doch das war stets ein gutes Zeichen. Nebos ging als Favorit ins Rennen aller Rennen. Das Finish mit Königsstuhl ist legendär, im WDR hat es einen Platz in der Serie „Zeitzeichen“ gefunden. Königsstuhl bleibt mit einem Kopf voraus, trotz unglaublicher Aufholarbeit schafft es Nebos nicht ganz. Ich schreibe Hein Bollow die Frage auf: „Warum hat Nebos nicht gewonnen?“ Bei seiner kurzen, knappen Antwort lächelt Hein Bollow: „Ich saß nicht im Sattel. Sonst hätte er gewonnen.“ Trotz der Niederlage hatte sich gezeigt, dass mit Königsstuhl und Nebos zwei der besten deutschen Vollblüter das 110. Deutsche Derby unter sich ausgemacht hatten. Königsstuhl stieg später zum bislang einzigen „Triple Crown“-Sieger in Deutschland auf.

Nebos gewann nur drei Wochen nach der harten Derby-Partie den Großen Preis von Berlin in starker internationaler Gesellschaft im Spaziergang. Interessant war dann sicher, dass im Horster Aral-Pokal Königsstuhl erneut gegen Nebos das bessere Ende hatte. Diesmal sogar recht deutlich. Allerdings war Nebos nicht ganz heil aus dem Aral-Pokal gekommen. „Wir mussten auch den Großen Preis von Baden auslassen. Dann aber konnte ich Nebos für den Preis von Europa vorbereiten“, erzählt Hein Bollow. Und diesen gewann Nebos unter Lutz Mäder nach einer großen kämpferischen Leistung mit seinem gewohnten Speedwirbel. Am Ende der Saison hatte Nebos sogar noch mehr verdient als sein großer Widersacher Königsstuhl. Im GAG wurden beide auf eine Stufe gestellt.

Alles abgeräumt
„Als Vierjähriger war Nebos noch besser, vor allem auch reifer geworden“, erzählt Hein Bollow. Zunächst kam der Batthyany-Hengst mit Gerling-Preis, Großer Preis von Dortmund, Großer Preis von Düsseldorf – gegen Königsstuhl – und erneut Großer Preis von Berlin viermal in Folge zum Zuge. So überraschte es dann schon, dass Nebos den Aral-Pokal gegen Wauthi knapp verlor, doch hatte er dem Röttgener glatte sieben Kilo an Gewicht geben müssen. Später holte sich Nebos den Großen Preis von Baden, den er als Dreijähriger noch hatte auslassen müssen. Dann gab es nur noch ein Ziel: Der Prix de l‘ Arc de Triomphe, in Longchamp dort wollte man den ganz großen Wurf landen. In den Farben der Gräfin Batthyany hatte San San 1972 das bedeutendste Rennen der Welt gewonnen. Auch Nebos lief acht Jahre später ein großartiges Rennen, Fortuna aber stand ihm nicht zur Seite.

„Genau in dem Moment, wo er so richtig auf Touren kam, machte man ihm die Bude zu. Lutz Mäder musste neu ansetzen. Nebos packte auch erneut noch toll an, doch mehr als Platz fünf war unter diesen Umständen nicht mehr drin. Ich glaube, er hätte ohne diese Störung auch als Sieger vom Geläuf kommen können. Die Siegerin war im Ziel gerade einmal zwei Längen weg“, noch heute, fast 40 Jahre später, ist Hein Bollow die Enttäuschung anzusehen. Es sollte das einzige Mal in der überragenden Laufbahn von Nebos bleiben, dass er kein Geld mit nach Hause brachte. Bei achtzehn Starts gewann Nebos zwölf Rennen, seine Gewinnsumme belief sich auf 1.265.955 Mark. Ferdinand Leisten, Margit Gräfin Batthyanys Berater, gründete nach Abschluss der Karriere von Nebos ein Syndikat, so dass der Hengst in Deutschland seine Zuchtlaufbahn beginnen und man die Topangebote aus dem Ausland ausschlagen konnte. Seine Söhne Lebos und Laroche stiegen ebenfalls zu Derbysiegern auf. Im Sommer 1999 musste Nebos, der in den Gestüten Erlengrund, Ittlingen und Westerberg wirkte, und dessen Einfluss in der deutschen Vollblutzucht vor allem auch durch seine Töchter immer noch sehr präsent ist, im Alter von 23 Jahren in einer Tierklinik aufgegeben werden.

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