Es ist Donnerstag, 14 Uhr, die Wolken hängen tief über Köln, die Sonne hat sich heute den ganzen Tag noch nicht so recht blicken lassen, jetzt gehen die Wolken zumindest ein bisschen auf. Das „Starbucks“ am Friesenplatz in Köln ist der vereinbarte Treffpunkt von Patrick Bücheler mit einem Jockey, der den deutschen Rennsport über die letzten zwei Jahrzehnte geprägt hat, aber aktuell zum Zuschauen verdammt ist. Und der fast schon ein wenig in Vergessenheit zu geraten scheint in einer schnelllebigen Zeit. Andrasch Starke ist pünktlich wie immer, hat die täglichen Reha-Maßnahmen hinter sich, kommt gerade aus dem Kraftraum. „Ich habe ein bisschen früher aufgehört“, sagt er, „ein paar Minuten aber nur.“
Andrasch Starke ist entspannt, gut gelaunt, eigentlich wie immer. Er holt zwei Becher Kaffee. Knapp 57 Kilo bringt er aktuell auf die Waage, das ist etwas mehr als sein Kampfgewicht, aber immer noch wenig genug, um ohne Probleme wieder in den Rennsattel zurückzukehren. „Ich komme wieder“, sagte er und verkündet damit eine Botschaft, auf die die Rennsportszene lange gewartet hat. „Das sah lange alles nicht gut aus“, sagt er. „Aber die letzten 14 Tage waren wirklich sehr gut für mich, da habe ich enorme Fortschritte gemacht. Sie haben mich sehr positiv gestimmt.“ Die Beweglichkeit ist in die linke Hand zurückgekehrt, auch die erste Kraft. Wichtig, um das zu tun, was sein Job ist: die Zügel auf einem Rennpferd fest in der Hand zu halten.
Ein Rückblick: es ist Sonntag, der 4. Mai, Rennbahn Kyoto. Sein letzter Tag in Japan. Die Chance zum mehrwöchigen dortigen Gastspiel hatte sich kurzfristig ergeben, Starke schlug zu, gewann unter anderem auch ein Gruppe-Rennen, war fünfmal in Gruppe-Rennen platziert, war insgesamt zwölfmaliger Sieger. Er wollte nach diesem Intermezzo in Fernost wieder zurück an den Stall von Peter Schiergen in Köln kommen. Ein Sturz machte alle Pläne zunichte.
„Mein Pferd hat sich ein Bein gebrochen und in der Sekunde war ich chancenlos und musste hart zu Boden“, sagt er. Ein Schlüsselbeinbruch und ein Lungenriss waren die harten Folgen. „Durch den Lungenriss konnte ich vor Ort nicht operiert werden. Eine Narkose war denen zu gefährlich und so präparierte man mich erst einmal reisetauglich. Die Ärzte hier haben zuerst ebenfalls abgewunken, ich musste einige Zeit auf die OP warten.“
Es war nicht mehr als ein Routineeingriff eigentlich, mit dennoch gravierenden Folgen. „Die Komplikationen, die aufgetreten sind, hatten mit der eigentlichen Verletzung nichts zu tun.“ Ein Nerv wurde bei der Schulter-OP in Mitleidenschaft gezogen.
„Ich hatte schon beim Wachwerden ein komisches Gefühl“, sagt Starke heute, „aber in der Anfangsphase wirkten ja noch die Betäubungsmittel im Arm, ich hatte einen so genannten Plexus-Katheter. Als es am nächsten Tag immer noch nicht besser geworden ist, habe ich begonnen, mir große Sorgen zu machen.“ Es ging im weiteren Verlauf in zwei Uni-Kliniken, zu einem Neurochirurgen, sehr schnell fand man heraus, dass es sich um eine Nervenverletzung handelte.
Es waren Horror-Tage für Starke, wie man ihm heute noch anmerkt. Nicht wissend, wie es weitergeht. Den Horror vor Augen, vielleicht nie mehr das tun zu können, was er mehr als sein halbes Leben lang getan hat: auf Rennpferden sitzen. „Das mit dem Beruf ist das eine“, sagt er, „aber das ganze hatte ja noch eine andere Dimension. Wenn Du Dir nicht die Schuhe zubinden kannst, Deinen Sohn nicht auf den Arm nehmen kannst, nicht richtig schlafen kannst nachts, dann ist das noch einmal eine ganz andere Nummer.“
Der Mann, der mehr als 2000 Rennen gewonnen hat, der Noch-Vierziger, der bald 41 wird, gibt seine Gedanken aus dieser Zeit preis, wirkt nachdenklich. „Mein Zustand war eigentlich so schlecht, dass ich nicht einmal drüber nachdenken konnte und wollte, was ich für den Fall der Fälle alternativ machen könnte.“ Bei 50 / 50 standen die Chancen, dass die Nervenverletzung komplett abheilt. „Man hat mir immer gesagt, man muss drei Monate abwarten, bis man beurteilen kann, ob der Nerv sich regeneriert.“ Und diese drei Monate sind jetzt ziemlich exakt rum, mit positivem Befund für Starke. „Das ist ein sehr schleichender Prozess gewesen“, sagt er, „das kam nicht mit einem Aha-Erlebnis von jetzt auf gleich. Immer wurde es ein bisschen besser.“
Starke schaut jetzt weiter nach vorne. „Es ist ein Super-Gefühl, zu spüren, dass es jeden Tag besser wird. Mir geht es wirklich gut.“ Er fährt wieder Rad. Am Anfang auf dem Hometrainer, dann mit einem Triathlon-Lenker, auf dem man sich mit den Ellenbogen abstützen kann, die Hand kaum braucht. Und jetzt wieder mit einem normalen Rad, wo die Funktion der Hand wieder da ist. „Ich kann noch nicht sagen, wann ich wieder dabei sein werde, möchte auch keine zeitliche Prognose abgeben. Es kann schnell gehen, es kann sich auch noch ein bisschen ziehen. Aber ich weiß, ich komme wieder.“
Dann, so der Plan, will Andrasch Starke noch vier oder fünf Jahre reiten. „Ich habe mal gesagt, bis 40 will ich reiten, das bin ich jetzt. Jetzt sage ich, bis 45 wird es wohl gehen. Da sehe ich kein Problem, das geht in Sachen Fitness. Man will ja auch noch eine gute Figur abgeben, wenn man reitet.“ Wieder ein entspanntes Lachen. Das Ende der Jockey-Karriere wird irgendwann kommen. „Aber das möchte ich selbst bestimmen, mir das nicht von einem Arzt sagen lassen, dass es nicht mehr geht“, spricht der kämpferische Andrasch Starke. „Ich habe zwar nachgedacht, was ich dann einmal machen könnte, aber die Gedanken sind bei weitem nicht zu Ende gedacht. Eines ist mir klar geworden: es wird immer irgendwas mit Pferden sein.“
Auch während der letzten Monate hat Starke – auf Rennbahnen war er indes nicht zu Gast – das Geschehen intensiv verfolgt. Vor allem, wenn Pferde aus dem Schiergen-Stall am Start waren. Und das Derby, „sein“ Rennen. „Sea The Moon hat das Zeug, etwas ganz Besonderes zu werden.
Etwas Besonderes ist er schon, jetzt kann die nächste Stufe kommen. Ich war bei seinem ersten Start zweijährig dabei, bin in dem Rennen mitgeritten. An der Startstelle verkörperte er eine Ausstrahlung, die mich direkt fasziniert hat. Das war ein Wow-Effekt. Man kann den Besitzern und dem deutschen Rennsport nur gratulieren zu solch einem Pferd. Für mich ist er natürlich auch deshalb etwas Besonderes, weil er aus der Familie von Samum, Schiaparelli, Salve Regina stammt. Das waren ja quasi ‚meine Pferde‘, mit denen ich große Erfolge hatte.“
Als die Idee aufkam, sich mit Starke zu treffen, wurde auch der Plan geboren, einmal eine Liste seiner Gruppe-Sieger zu erstellen. „Die ist wirklich sehr lang“, sagt Katja Baltromei, die das in der Sport-Welt-Redaktion macht, mitten in der Erstellung, „das hätte man gar nicht gedacht.“ In der Tat nimmt Starkes Erfolgsbilanz alleine in Gruppe-Rennen einen breiten Raum ein, der fast andächtig macht. Hier sitzt ein Großer dieses Sports und hofft darauf, dass diese Liste noch um einiges länger werden möge. Obwohl – ist das wirklich sein Ziel? „Ich habe ja eigentlich alles gewonnen und bin dankbar dafür. Ziele? Ich möchte vielleicht noch einmal nach Japan. Auch das Derby noch einmal zu gewinnen, da hätte ich nichts gegen.“ Ein Lachen huscht über das Gesicht, das so kämpferisch aussieht, wie es bei Starke immer ausgesehen hat.
„Aber die großen Siege sind es nicht mal, die mir fehlen. Ich vermisse ganz einfach das normale Renngeschehen, den Tagesablauf des Jockeys. Und ich vermisse auch, manch einer mag das kaum glauben, die Schinderei, die damit verbunden ist.“ Man nimmt es ihm ab, wenn er das sagt. Denkt selber drüber nach, stimmt dann zu, nickt. „Ich vermisse das Geschehen in der Jockeystube, das Flachsen mit den Kollegen, die ganze Atmosphäre – es sind so viele schöne Dinge, die meinen Beruf ausmachen auch abseits der großen Siege. Das wird einem in einer solchen Zeit erst so richtig bewusst.“
Wie auch andere Erkenntnisse sich ihren Platz nehmen. „Ich habe viele echte Schicksale gesehen während meiner Reha. In Gedanken verschämt meine Hand hinter dem Rücken versteckt und mir gesagt ‚Mein Gott, Du hast ja eigentlich nichts, wenn man das Schicksal anderer sieht. Es ist ein Drama, was mit Dir passiert ist, aber es ist eigentlich ein kleines Problem, wenn man sich andere anschaut, die es viel schlimmer getroffen hat.“ Man hat den Eindruck, in dem Augenblick, in dem Starke das sagt, ist es auf einmal ganz ruhig an dem sonst so belebten Friesenplatz.
Nach Peter Alafi ist Starke der zweiterfolgreichste Jockey im Club 1000 des deutschen Rennsports. Nur dieser Jahrhundertjockey, dieses Ausnahme-Genie, steht noch über Starke, der jetzt hier im Starbucks sitzt und seinen Kaffee genießt. Die Sonne ist jetzt, zum Ende des Gesprächs, auch endlich einmal richtig rausgekommen.