Es gibt Geschichten, die man kaum erfinden kann, so unglaublich erscheinen sie manchmal. Und besonders der Rennsport ist in der Lage, solche Geschichten zu schreiben. Der Protagonist in einem solchen Turf-Märchen ist der zehnjährige Young Tiger. Der Wallach entstammt dem ersten Jahrgang des Ex-Ullmann-Galoppers und zweifachen Siegers des Großen Preises von Baden, Tiger Hill.
Als dieser im Jahr 2000 als Deckhengst im Haras de Val Henry von Jean-Luc Lagardere aufgestellt wurde, bekam er u. a. auch Besuch von der Trempolino-Tochter Youngolina. Diese stammte zwar aus der Zucht der Familie Wertheimer und war auch eine Halbschwester der dreifachen Gruppesiegerin Fabulous Hostess, doch selbst war sie auf der Rennbahn keine große Leuchte.
Nachdem sie ihre Karriere bei Criquette Head-Maarek begann und nach neun Starts im Alter von drei Jahren immer noch sieglos war, wurde sie nach einem Verkaufsrennen von Trainer Marcel Rolland für Besitzer Frank McNulty geclaimt.
Nach drei Starts für Rolland, bei denen sie nicht ein einziges Mal den Richter belästigte, wechselte sie zu Trainer Jean-Claude Rouget. Für den Meistertrainer aus der Provinz gewann sie dann als Vierjährige noch vier Rennen. Tarbes, Aurillac, Vic-Bigorre und Grenade hießen die Stationen ihrer Erfolge.
Nicht gerade ruhmreiche Stätten der Galopp-Welt, sondern eher C-Bahnen im französischen Südwesten. Im gleichen Jahr beendete sie ihre Rennkarriere und wechselte in die Zucht, wo sie für Bernard Ducasse und Madame Alain Laffitte debütierte. Ihr erstes Produkt stammte von Shining Steel. Es war ein Hengst, der später kastriert wurde. Zwar zeichnete er sich durch Härte aus, aber kaum durch Klasse. Bis zum Alter von sieben Jahren bestritt er 64 Rennen, von denen er vier gewann.
Allerdings handelte es sich um kleine Rennen im belgischen Ostende (zweimal), in Sterrebeek, sowie in der französischen Provinz in Montier-en-der. Danach wurde Youngolina für Valanour gebucht, doch die aus dieser Paarung stammende Stute Valolina kam bei neun Starts nur zu einem mickrigen fünften Platz in La Teste. Nach einer Auszeit fand Youngolina in den Besitz des Vicomte Alain de Rose, der sich dazu entschloss, die Stute zu Tiger Hill zu schicken.
Aus dieser Paarung entstammt Young Tiger, der im Elevage de La Vie in der Normandie aufwuchs, einem Gestüt in der Nähe von Vimoutiers, das inzwischen zum La Motteraye Consignment gehört. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte Young Tiger in Deauville, wo er im August 2002 als Jährling auf der Auktion erschien.
Für 8.000 Euro wurde er zunächst nicht zugeschlagen, dann kaufte der in Pau ansässige Trainer Francois Rohaut den Braunen für den spanischen Besitzer Javier Gispert. Dieser führt die Tradition seines Vaters Carlos Gispert fort, der Besitzer des Yeguada Cataluna (katalonisches Gestüt) war. Für die blau-rot gestreiften Farben von Gispert debütierte Young Tiger zweijährig in Bordeaux, landete dabei in einem Feld von 19 Pferden auf dem fünften Platz.
Das blieb sein einziger Start als Youngster, seine Dreijährigenkarriere begann er mit zwei Siegen in Toulouse, einer Bahn auf der er bis heute bei sechs Starts ungeschlagen ist. Nach dem zweiten Sieg, der mit sechs Längen völlig überlegen ausfiel, wagte man den Sprung auf Gruppe-Parkett, im Prix Noailles (Gr.II) in Longchamp belegte er den vierten Platz, nur einen kurzen Hals hinter dem Schimmel Cherry Mix, der später noch den Rheinland-Pokal in Köln auf höchstem Level gewann.
Im Prix La Force in Saint-Cloud (Gr.III) wurde er dann Zweiter. Dieser Start sollte – was heute sicher erstaunt – zugleich bereits sein letzter auf Gruppe-Ebene überhaupt sein. Nachdem er in einem Course B in Longchamp Fünfter und damit Letzter wurde, schloss sich erst einmal eine neunmonatige Pause an.
Vierjährig brauchte er zunächst etwas, um ins Rollen zu kommen, am Ende der Saison 2005 standen nach zehn Starts aber sechs Siege und vier Platzierungen in der Bilanz. Man hatte sich im Laufe der Saison entschieden, die Pariser Bahnen zu meiden und konzentrierte sich auf die Rennen in Südfrankreich, bzw. Spanien, der Heimat seines Besitzers.
Nachdem er in diesem Jahr über 100.000 Euro verdiente, musste er gesundheitsbedingt die komplette Saison 2006 auslassen. Und auch im Jahr 2007 sah man Young Tiger, inzwischen sechsjährig, erst im August wieder auf der Bahn. In einem Amateurrennen auf der Sandbahn in Deauville wurde er beim Comeback Zweiter, zu gut war für ihn der von Hans Blume trainierte Schimmel Santiago, der mit Vanessa Rodenbusch überlegen mit drei Längen gewann.
Es schlossen sich drei Siege in Folge an, u. a. im Grand Prix de Mont-de-Marsan, den er nach 2005 zum zweiten Mal gewann. Im November 2007 startete Young Tiger zum ersten Mal in einem Listenrennen. Sein Team hatte für ihn den Prix du Grand Camp in Lyon-Parilly ausgesucht.
Unter seinem fast ständigen Jockey Jean-Bernard Eyquem, der ihn bei 26 seiner bislang 37 Starts geritten hat und mit ihm insgesamt 17 Rennen gewonnen hat, setzte er sich mit zweieinhalb Längen Vorsprung gegen Toni Blue durch.
Sein nächster Start erfolgte erst 2008. In Toulouse gewann der Tiger Hill-Sohn auf Listenebene die Le Vase d‘Argent, eine 2000 Meter-Prüfung, die er auch in den beiden darauffolgenden Jahren für sich entscheiden konnte. Es war Young Tigers erster Auftritt in einem Lauf der Rennserie „Le Defi du Galop“, die 2007 in Frankreich gestartet wurde.
Dieser Wettbewerb sollte zum großen Glücksfall für das Team um Young Tiger werden, denn da die Rennen dieser Serie hauptsächlich auf Listen-Ebene ausgetragen werden und sich die Distanzen zwischen 1900 und 2500 Metern bewegen, hatte man mit dem Wallach das perfekte Pferd dafür. Und durch die satten Boni, die es für Mehrfach-, bzw. Gesamtsieger dieses Wettbewerbs gibt, konnte Young Tiger richtig Kasse machen. Allerdings nicht mehr im Jahr 2008, denn nach seinem Jahresdebüt war aufgrund einer Verletzung bereits wieder Saisonschluss.
2009 konzentrierte man sich dann ausschließlich auf die „Defi-Rennen“. Nach einem Jahr Pause und einem Aufbaurennen in Moulins startete Young Tiger richtig durch und gewann die Gesamtwertung „Le Defi du Galop“ sowohl 2009, als auch 2010. Eine Zäsur ergab sich im Sommer 2010, als Young Tigers Jockey Jean-Bernard Eyquem an den Stall von Jean-Claude Rouget wechselte.
Nachdem er mit Young Tiger 2010 den Grand Prix de Bordeaux gewonnen hatte, lobte Eyquem seinen inzwischen bereits neunjährigen Partner in den höchsten Tönen. „Die Karosserie ist zwar etwas knittriger geworden, aber der Motor läuft weiter auf Hochtouren“, spielte er auf das Alter, aber auch die unverändert vorhandene Klasse des Rohaut-Schützlings an. Zum neuen Reiter des Seriensiegers avancierte Francois-Xavier Bertras.
Nach dem dritten Platz im Grand Prix de la Region Alsace, als er dem Sieger Durban Thunder vier Kilo geben musste, kam es im Grand Prix de Nantes zu einer kuriosen Situation. Young Tiger sah auf der kurzen Zielgeraden der Waldrennbahn bereits wie der Sieger aus, als der von Jean-Marie Beguigne Lomitas-Sohn Ranthambore angeflogen kam und ihn noch mit einer dreiviertel Länge abfing. Und in dessen Sattel saß – Jean-Bernard Eyquem.
Es sollte bis heute die letzte Niederlage von Young Tiger sein, der im Anschluss den Prix Max Sicard, den Grand Prix du Conseil General des Alpes Maritimes, und den Premio Regione Toscana am vergangenen Sonntag in Pisa für sich entschied. Die letzten beiden Prüfungen waren dabei die ersten beiden Läufe der „Le Defi du Galop-Serie 2011/12“, es sieht also schwer danach aus, dass Young Tiger diesen Wettbewerb zum dritten Mal in Folge gewinnen wird.
Mit dem Erfolg in Pisa hat er seine Gewinnsumme inklusive sämtlichen Boni auf über eine Million gehievt. 1.014.012 Euro hat der „galoppierende Geldschrank“ inzwischen verdient und es wird sicher noch der eine oder andere hinzukommen. Bedenkt man, dass er nicht ein einziges Grupperennen gewonnen hat, und auch nur zweimal auf diesem Level startete, ist das wohl einmalig. Ein besser gemanagtes Pferd als den Zehnjährigen gibt es wohl nicht.
Im vergangenen Jahr bekam er mit einer Marke von 51 (ca. 96 Kilo GAG) das höchste Valeur (französische Handicapeinschätzung) seiner gesamten Karriere. Einige Zahlen über Young Tiger verdeutlichen, welch besonderes Pferd der Zehnjährige, der sein Alter offenbar nicht spürt, ist. Bei 37 Starts gewann er 22 Rennen, bei keinem Start blieb er ohne Geldprämie.
Bei 14 Starts auf Listenebene war er zehnmal erfolgreich. In den letzten sechs Jahren war er bei keinem Start schlechter als Dritter. Young Tiger siegte auf Distanzen von 1600 bis 2500 Meter. Kein Wunder, dass bei solchen Zahlen sein Besitzer Javier Gispert ins Schwärmen gerät. „Er ist ein Traum, das Pferd des Lebens, das Pferd meines Lebens“, sagte Gispert nach Young Tigers Sieg am Sonntag in Pisa.
Interessant, mit dem von Ballingarry stammenden Hengst Colpacino steht ein Halbbruder des Großverdieners im Krefelder Stall von Mario Hofer, Besitzer des Dreijährigen ist Albert Steigenberger. Erstaunlich ist sicher, dass Young Tigers Mutter Youngolina nie mehr Tiger Hill aufsuchte, obwohl aus den Paarungen mit allen anderen Deckhengsten (Astarabad, Mansonnien, Grape Tree Road, High Chaparral und Bertolini) kein einziges Produkt auch nur im entferntesten die Klasse von Young Tiger besaß.
Insgesamt haben die sieben Geschwister von Young Tiger, die bislang auf der Rennbahn waren, lediglich sechs Rennen gewonnen. Doch Javier Gispert wird das egal sein, denn er nennt das richtige Pferd sein Eigen.