Fast auf den Tag vor drei Jahren trafen wir uns zu einem Nachmittagskaffee im Golfclub auf der Mülheimer Galopprennbahn. Nun verabredeten wir uns zu Beginn der Woche erneut, im „Kaffee Botanischer Garten“ in Mülheim/Ruhr. Im Grunde auch nur ein größerer Katzensprung vom Raffelberg entfernt. Ging es vor drei Jahren um den wenige Tage zuvor in Rente gegangenen Trainer Uwe Ostmann, so war nun die aktuelle Sport-Welt-Serie „Meine Nr. 1“ der Anlass des Treffens. Seit seinem Abschied vom Trainerberuf hat man Uwe Ostmann mit seiner Frau Ursula an vielen Renntagen im Jahr gesehen, was auch so bleiben wird. „Mir geht es gut, ich bin gesund, aber ein wenig fehlt mir der Trainerjob doch“, gibt der ehemalige erstklassige Hindernisreiter und hocherfolgreiche Trainer offen zu. Seine täglichen Fahrradtouren macht er, sofern die Witterung mitspielt, wie seinerzeit angekündigt. Auch die erste anvisierte Reise zur Frankreichs Hindernishochburg Auteuil war bereits so gut wie in trockenen Tüchern, als das Stellwerk der Deutschen Bahn in Mülheim/Ruhr vor einigen Monaten in Brand geriet und Uwe Ostmann die Zugreise leider kurzfristig canceln musste. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Jedes Pferd hat seine Geschichte
„Wissen Sie, hinter jedem Pferd steht ja eine Geschichte. Je besser die Pferde, desto interessanter wird sie, nicht nur für die unmittelbar Beteiligten. Ich hatte das Glück, sehr, sehr viele erstklassige Pferde zu trainieren. Und es ist natürlich nicht leicht, meine Nr. 1 auszuwählen. Ich habe länger überlegt und mich schließlich für ein Pferd entschieden, hinter dem eine sicherlich einmalige Geschichte steht. Meine Nr. 1 ist Mandelbaum.
Wir erinnern uns schnell: Es war im Grunde viel mehr als eine Geschichte, es war am Ende ein Drama. Und mit Mandelbaum entschied sich Uwe Ostmann somit für einen Kandidaten, dem niemals ein Gruppe I-Erfolg gelingen sollte. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Pferden in seiner so langen Trainerlaufbahn. Doch es war eben auch diese in einem Drama endende Geschichte, die dem ehemaligen Trainer aus dem ostwestfälischen Herzebrock und dem Mülheimer Diana-Stall so ans Herz gewachsen war und warum Mandelbaum seine Nr. 1 wurde.
Der überragende Jahrgangsbeste
Die Geschichte von Mandelbaum beginnt für Uwe Ostmann am Tag der BBAG-Jährlingsauktion 1988. Karl Jörg vom Gestüt Wittekindshof kam mit einem Jährling am Führzügel aus dem Auktionsring, wenig später sprach Rüdiger Alles von der IVA Uwe Ostmann an. „Herr Ostmann, ich habe soeben im Auftrag von Herrn Steigenberger den Zuschlag für diesen Wittekindshofer Königsstuhl-Sohn bekommen. Albert Steigenberger möchte gerne den ersteigerten Hengst zu Ihnen ins Training geben.“ „Dass Herr Steigenberger mir ein Pferd in Training geben wolle, darüber hatten wir schon mehrfach gesprochen. Seine auserwählten Trainer waren Bruno Schütz und Peter Lautner, doch hatte er mir mehrfach angekündigt, dass er auch mir gerne ein Pferd in Training geben wolle.“ Nun war es soweit. „Albert Steigenberger, der diesen Zuschlag als Schnäppchen-Kauf für 36.000 Mark ansah, war sehr offen. Er meinte zu mir, Bruno Schütz und Peter Lautner wollen diesen großen, wuchtigen Hengst, der darüberhinaus stark verstellt war, nicht in Training nehmen, er werde nicht halten. Als ich mir den Hengst mit dem Namen Mandelbaum dann ansah, dachte ich mir, oh je, der ist wirklich groß und steht nicht korrekt. Sein Pedigree hatte ich mir in der Zwischenzeit angeschaut. Es handelte sich um eine vom großen Züchter Walther J. Jacobs aus England eingeführte Erfolgsfamilie, ein Zweig war auch in Wittekindshof gelandet. Königsstuhl als Triple-Crown-Sieger und Vater war auch nicht verkehrt. Ich hatte dann auch sofort einen auf dem Gebiet der Orthopädie sehr kompetenten Hufschied im Kopf und stimmte eigentlich sofort zu. Ich nehme Mandelbaum in Training.“ Wie wertvoll diese von Fährhof-Gründer Walther J. Jacobs in Deutschland gegründete Familie der importierten Acropolis-Tochter einmal werden sollte, war damals noch nicht zu ahnen. Uwe Ostmann: „Mandelbaums vom damaligen Wittekindshofer Stallion Elektrant stammende Mutter Mandelauge war auch bei mir in Training gewesen. Sie gewann ein Rennen, lief auf Listenebene auf den vierten Platz und steht inzwischen als Großmutter des Weltklassepferdes Manduro.“
Der Schmied leistet ganze Arbeit
Im Mülheimer Diana-Stall angekommen, wurde Mandelbaum als erste Maßnahme auf vernünftige „Hufe“ gestellt. „Er musste vorne extrem höher gestellt werden, die Spezialeisen wurden glühend verarbeitet, so etwas gibt es heute gar nicht mehr. Bald gab es kein Problem, mit Mandelbaum Schritt für Schritt in die tägliche Arbeit einzusteigen“, erinnert sich Uwe Ostmann. Georg Bocskai war seinerzeit Stalljockey bei Uwe Ostmann. „Genau wie ich hatte auch er schnell das große Galoppiervermögen von Mandelbaum erkannt. Trotz all seiner Ausmaße war Mandelbaum bereits als Zweijähriger schnell zur Hand. Ich weiß nicht mehr genau wo, aber er gewann im Sommer bei seinem ersten Start und später die beiden Auktionsrennen von Köln und Dortmund. Nach seinen ersten drei Starts hatte er an die 200.000 Mark verdient“, frohlockt Uwe Ostmann auch heute noch.
Eine Entwicklung fiel dem damaligen Betreuer von Mandelbaum besonders auf: „Ich habe selten ein Pferd gesehen, das sich von einem Start zum anderen so gravierend steigert. Das war auch der Fall, nachdem Mandelbaum als Dreijähriger im Dr. Busch-Memorial in die Saison gestartet war“, so Uwe Ostmann, der mit Besitzer Albert Steigenberger über Winter natürlich die klassische Route abgesteckt hatte: Dr. Busch-Memorial, Mehl-Mülhens-Rennen, Union-Rennen, Derby. Die erste Etappe, das 1990 auf Listen-Ebene ausgetragene Dr. Busch-Memorial, gewann der Königsstuhl-Sohn völlig überlegen.
Das Aus vor der Olympbesteigung
Erstmals auf Gruppe-Ebene, ging Mandelbaum auch im klassischen Mehl-Mülhens-Rennen auf und davon. Nun war man sich unisono einig: Das ist der Jahrgangsbeste. „Alan Freeman saß im Sattel, er brauchte keinen Finger zu rühren“, amüsiert sich Uwe Ostmann heute noch über die Galavorstellung seines Schützlings auf diesem klassischen Parkett. Auch im Union-Rennen gab es keine Opposition. Mandelbaum beherrschte die Szene und den Derby-Jahrgang. Uwe Ostmann: „Wir haben natürlich alle potenziellen Anwärter für das Deutsche Derby verfolgt. Aber, mein Gott, stand dieser Hengst über seinem Jahrgang. Er hatte die Union völlig souverän gewonnen und besaß noch nicht einmal den letzten Schliff.“
Nun sollte die Krönung kommen. Der in sechs Rennen ungeschlagene Mandelbaum stieg ohne Wenn und Aber zum Topfavoriten für das Deutsche Derby auf. Albert Steigenberger schreibt in seinem Buch „Mein Leben im Rennsport“.
„Noch drei Wochen bis zum ersten Juli-Sonntag. Mir gehörte für das Rennen aller Rennen, den Klassiker schlechthin, der absolute, in sechs Rennen ungeschlagene Topfavorit! Ich durfte ganz beruhigt diesem Ereignis entgegenfiebern, mein Superstar durfte sich nur nicht verletzen. Und so schreckte ich tatsächlich jedes Mal auf, wenn das Telefon klingelte, weil ich Hiobsbotschaften aus Mülheim befürchtete. Dass diese böse Vorahnung sich knapp zwei Wochen später wirklich bewahrheiteten, ist für mich das Dramatischste, Unglücklichste und Schrecklichste, was einem überhaupt und mir im Besonderen im Rennsport passieren kann.“
Natürlich traf dies genauso auf Uwe Ostmann zu. „Ich hatte bei der Schlussarbeit vor dem Derby am Dienstag bereits festgestellt, dass dies nicht der wahre Mandelbaum war, hatte dies auch Albert Steigenberger mitgeteilt. Wir stellten leichtes Fieber fest. Doch war die auf uns zu kommende Dramatik noch nicht abzusehen. Zwei Tage später stieg das Fieber. Mandelbaum fraß nicht mehr, der Tierarzt diagnostizierte einen vereiterten Backenzahn. Alle Derby-Träume waren geplatzt, in der Tierklinik bei Dr. Carlos Merkt war eine sofortige Kieferoperation vonnöten. „Die Mitteilung an Herrn Steigenberger, dass Mandelbaum nicht im Derby starten könne, war ein Moment, den man nie vergisst“, versucht Uwe Ostmann zu erklären, was damals auch in ihm vorging. „Wir haben das Pferd, das turmhoch über dem Jahrgang steht, aber die Krönung im Derby kann nicht stattfinden. Das ist unglaublich bitter.“ Für Albert Steigenberger sollte es aber ein mehr als versöhnliches Derby-Erlebnis geben. Sein Karloff gewann das Deutsche Derby, in seiner zweiten Farbe lief Calcavecchia auf Platz zwei. Besser hätte es in keinem Drehbuch stehen können. Mandelbaum bestritt als Vierjähriger noch vier Rennen, fand aber nie mehr zu seiner eigentlichen Stärke zurück. Dann beendete ein Sehnenschaden seine so unvergleichliche Karriere, doch am Ende hielt er länger, als es viele erwartet hatten. Zum ganz großen Derbysieger aufzusteigen, blieb ihm leider versagt. Ein vereiterter Backenzahn hatte ihm im sprichwörtlichen Sinne den „Zahn gezogen“.