Auf einen Kaffee mit Jean-Pierre Carvalho

Von Patrick Bücheler

Es ist zwar nicht sonderlich warm, aber immer noch warm genug, um mit einer Jacke draußen zu sitzen. Ein durchaus hin und wieder einmal heftiger Wind wirbelt die Utensilien durcheinander, die da vor einem auf dem Tisch liegen. Von Durcheinander ist bei Jean-Pierre Carvalho keine Spur. Hier sitzt jemand, der ziemlich genau weiß, was er will und weiß, was er sagt. Der Franzose hat sein Auto zum Friesenplatz in Köln gesteuert, freut sich schon jetzt auf einen anschließenden Bummel am  Neumarkt. „Wenn ich schon mal hier bin….“. Recht hat er. Carvalho bestellt einen doppelten Espresso, ich einen Café Latte, in der mittleren Ausführung, die irgendwie riesig daherkommt. Es sollte sich als richtige Entscheidung erweisen, das Gespräch mit dem Trainer im Gestüt Schlenderhan dauert durchaus etwas länger als eingeplant.
Carvalho wiegt 53 Kilo. Könnte jederzeit wieder reiten. Sein Grundgewicht hat sich nicht verändert seit der aktiven Jockeyzeit. „Ein paar Muskeln habe ich verloren“, gibt er zum Besten, in ziemlich geschliffenen Deutsch. „Meine Form ist jetzt anders. Ich sehe heute aus wie ein umgedrehtes V.“ Der Trainer bemerkt die Fragezeichen auf der Stirn des Gesprächspartners, lacht. „Nun ja, früher hatte ich mehr Muskeln in der Schulter, am Oberkörper, da sah ich aus wie ein V. Heute eben wie ein umgedrehtes V.“

Das Ende der Jockey-Karriere
Das Gespräch beginnt. Und irgendwie kommt man auf einen „freien Tag“, den man sich hin und wieder mal gönnt. „Frei machen, das kenne ich eigentlich nicht. Zumindest nicht am Stück. 2008 hatte ich mal lange frei, ziemlich genau acht Monate, um genauer zu sein.“ Es war eine Zwangspause, die Carvalho nicht wollte, aber das Schicksal hat es ihm so beschieden. Ein Sturz, ein Bruch des Brustbeins, aus und vorbei mit der Jockeykarriere. „Und davor war ich wohl 17, als ich das letzte Mal richtig frei hatte.“ Das Ende der Jockeykarriere, so lange ist es ja auch noch nicht her, hat Carvalho in sein Gedächtnis gebrannt. Mit Peligroso hat er in Krefeld für Mario Hofer und den Stall Steigenberger das Ratibor-Rennen gewonnen. Ein Pferd, das danach an Godolphin verkauft wurde. Und eine Woche nach dem Sieg in Krefeld stürzte er in Hannover mit Kariba gleich im ersten Rennen des Tages. Er sollte nicht mehr in den Sattel zurückkehren. Auf die Rennbahn sehr wohl, seit dem 1. Juli 2009 ist er jetzt Trainer.
Und als solcher erfüllt er sich am ersten Oktober-Sonntag einen Traum.  Der Start von Ivanhowe im Prix de l’Arc de Triomphe – Carvalhos Augen leuchten, wenn man auf dieses Thema kommt. Ob er ihn gerne selbst reiten würde. „Nein“, schießt es aus ihm heraus. Pause. „Nein. Vor fünf Jahren gesagt ja, jetzt nein. Trainer sein und Jockey sein, das sind zwei verschiedene Dinge. Es braucht genug Konzentration, die Sache als Trainer gut zu machen, da denke ich nicht auch noch für einen Jockey mit. Natürlich ist das von Vorteil, wenn man selbst mal geritten hat. Man hat sehr schnell ein Bauchgefühl, kann sich sicherlich auch besser in bestimmte Rennsituationen versetzen, versteht besser, warum das und das passiert ist, wenn man ein Rennen analysiert. Aber selbst im Rennen reiten, das würde ich als Trainer jetzt nicht mehr wollen.“  

Die Vorbereitung auf den Arc
Der imponierende Iffezheimer Sieg gegen Sea The Moon ist jetzt anderthalb Wochen her, dem Pferd geht es gut, es läuft alles nach Plan. „Natürlich ist es noch ein längerer Weg bis zum Arc“, sagt Carvalho. Zweieinhalb Wochen können wohl eine halbe Ewigkeit sein. Man denkt, es macht schnipp und der Arc ist da, aber es sind eben zweieinhalb Wochen. „Vor allem sind wir ja jetzt in einer Phase des Temperaturwechsels. Wo man sich die Frage stellt, was macht man da jetzt mit den Pferden? Decken schon drauf, Decken runter lassen, Decken vielleicht nur nachts drauf? Nur als Beispiel.“ Wenn Jean-Pierre Carvalho das sagt, bekommt man unweigerlich ein erstes Gefühl dafür, was es heißt, einen der Mitfavoriten für das wichtigste Rennen der Welt gut über die verbleibende Zeit bis zu eben diesem Rennen zu bringen. „Das ist jetzt so ein bisschen die Zeit, wo die Pferde zu wackeln beginnen, wo die Form nach harter Saison kippen kann. Der Oktober ist der Monat, der viel ändert.“ Auf Ivanhowe, sein bestes Pferd, bezieht er das nicht direkt. Die Saison war für den Schlenderhaner bis dato keine sonderlich harte, obwohl man sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Aber vielleicht ist gerade das jetzt der ganz große Vorteil gegen den ein oder anderen Gegner, der das Jahr quasi durchgelaufen ist.

„Ein Pferd für den Arc oder allgemein für das Arc-Wochenende vorzubereiten, das ist eine Kunst für sich“, sagt Carvalho, „nicht umsonst gibt es hier echte Spezialisten. Royer-Dupre, Fabre zum Beispiel. Die wissen genau, wie das geht, mit jahrelanger Erfahrung. Das ist kein Zufall, wenn die Pferde da immer just am Arc-Wochenende in Top-Form sind.“ Es drängt sich die Frage auf, wie man von diesen Größen der Branche lernen kann, die offenbar ziemlich viel richtig machen. „Man kann es beobachten, ja, aber etwas direkt abzuschauen, das ist nicht so einfach. Man kann die Routen anschauen, die die Trainer gehen, welche Vorbereitungsrennen genommen werden. Das ergibt ein bestimmtes Bild. Und man kann aus den Medien Hinweise holen aus dem, was sie sagen oder was sie vielleicht nur zwischen den Zeilen sagen.“
Nun spielt Carvalho als Trainer also mit im Konzert der Großen, hat einen Starter im Arc. „Eigentlich war das Rennen auch immer das Ziel mit ihm, er war ja früh für das Rennen genannt. Er war nicht unbedingt das Hauptziel, wie beispielsweise bei Treve. Da stand ja früh fest, es geht alles in Richtung Arc. Aber bei Ivanhowe war der Arc eines von mehreren möglichen Zielen. In seinem Fall war ja auch noch gar nicht klar, ob er sich qualifizieren würde, man ihn mit guten Chancen satteln kann.“  Das kann man nun nach dem Eindruck aus Iffezheim offenbar guten Gewissens.

Starts in großen Rennen verpasst
Den Grand Prix de Saint-Cloud, den Großen Preis von Berlin, die King George – das sind Rennen, die man mit Ivanhowe verpasst hat. Das aufgetretene Hufproblem hat eine Pause erforderlich gemacht. „Eine solche Sache, die er hatte, das Hufproblem, ändert ja am grundsätzlichen Plan mit dem Pferd nichts. Ganz anders wäre es gewesen, wenn es mit ihm ein Leistungsproblem gegeben hätte, wenn die Leistungen schlecht gewesen wären. Dann hätte man den Plan anpassen müssen. Dazu bestand jetzt gar kein Anlass.“
Auch die Leistung aus dem Grand Prix de Chantilly, wo Ivanhowe Sechster wurde, sieht Carvalho überhaupt nicht in schlechtem Licht. „Es war der zweite Start nach langer Pause, ein verschlepptes Rennen. In der Geraden hatte er die gleiche Beschleunigung wie der Sieger. Der war vorher drei Längen vor uns und im Ziel auch. Vielleicht war es von uns ein Taktikfehler, vielleicht hatte er den ersten Start nicht so gut weggesteckt wie erhofft, war noch nicht im Rhythmus. Wir hatten zwar mehr erwartet, aber so verkehrt ist er da gar nicht gelaufen.“ Später, völlig unabhängig von diesem Start, traten dann die Hufprobleme auf.

„Wir haben sehr gute Karten“
„Haben Sie Mumm auf das Pferd, so richtigen Bock?“ – Es reicht eigentlich ein Blick in das Gesicht, um sich die Antwort selbst geben zu können. „Auf Ivanhowe?“ Da ist ein Strahlen zu sehen. Die Antwort selbst fällt etwas abwägender aus. Aber Carvalho eiert nicht rum. „Wir haben eine sehr gute Karte auf der Hand und wollen die jetzt ausspielen, so gut es eben geht. Alle Favoriten für das Rennen haben ja auf die ein oder andere Art versagt in den letzten zwei Monaten. Da ist kein Pferd, das rausguckt. Ein echt offenes Rennen. Wie Ivanhowe in Baden-Baden gewonnen hat, ohne Peitsche und mit Reserven, das sah schon versprechend aus. Die Japaner sind ein bisschen das Fragezeichen, wobei man bei Just A Way gar nicht weiß, ob er die Distanz kann. Und die Japaner sind noch gar nicht da. Am letzten Wochenende waren sie zumindest mal noch nicht angekommen in Europa. Die machen es jetzt anders als sonst, eine neue Taktik. Man wird sehen.“
Die Gretchenfrage nach dem Jockey bleibt nicht aus. „Das ist offen“, sagt der Trainer wie aus der Pistole geschossen. „Das Wochenende mit den Arc-Trials hat ja viele Spekulationen angeheizt. Es haben sich auch einige schon bei uns gemeldet. Weil sie voraussichtlich keinen Ritt haben, aber mit dabei sein wollen. Man kann sich die Jockey-Verteilung auf dem Papier ganz gut zurechtlegen, aber es bleiben ein paar Abers und Wenn-Danns. Wir werden in Ruhe entscheiden, wer Ivanhowe reitet.“

Erfüllung eines Lebenstraums
Für Carvalho wird das der Höhepunkt des Lebens im Rennsport sein, der Start im Arc. „Dafür macht man das ja“, sagt er. „Das ist das Rennen der Rennen. Den Traum, dabei zu sein, hat doch jeder. Ich stehe doch jeden Tag auf, um so etwas einmal zu erleben. Man hört nie auf, davon zu träumen.“ Wenn er das sagt, merkt man, dass ein Franzose vielleicht eine doch noch engere Bindung zu diesem Rennen hat als jemand anderer Nationalität. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leute aus dem Rennsport nicht zugeben, dass Sie davon träumen, in diesem Rennen dabei zu sein.“
Seit Anfang des Jahres ist Carvalho jetzt in Schlenderhan, auf der Trainingsanlage in Bergheim unweit von Köln. Irgendwann kam der Anruf mit der Bitte um ein Gespräch, ob er sich vorstellen könne, hier zu trainieren. „Natürlich musste ich dieses Angebot annehmen, sonst wäre ich doch fehl am Platz. Die Chance, Pferde zu trainieren, die ganz vorne mitmischen, die muss man nutzen. Ich habe mir immer gesagt, ich möchte nie Dinge bereuen, die ich nicht gemacht habe. Denn oft ist es ja wirklich so, dass man nicht das bereut, was man gemacht hat, sondern das, was man nicht gemacht hat.“

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